Dienstag, 27. Januar 2015

Was Nun Auf Tsipras und Seine Regierung Zukommt

Alexis Tsipras hat seine linksradikale Partei SYRIZA zu einem fulminanten Wahlsieg geführt. Wenn man berücksichtigt, dass es SYRIZA als Partei erst seit Mai 2012 gibt, wird man sich der Tragweite dieses Ergebnisses bewusst. Jetzt erhielt SYRIZA 36 Prozent der Stimmen und die Nea Dimokratia, die bisher größte Partei, ist mit 29 Prozent deutlich abgeschlagen. Die zweite vormals staatstragende Partei, PASOK, die bei den Wahlen 2009 sogar 44 Prozent der Stimmen erzielt hatte, ist nunmehr mit nur 5 Prozent der Stimmen auf dem Weg ins politische Abseits. Der Großteil der PASOK-Wähler ist zu SYRIZA abgewandert.

Mit 149 Sitzen hat SYRIZA knapp die Mehrheit im Parlament verpasst. Binnen Stunden hat Tsipras beschlossen, mit den Unabhängigen Griechen eine Koalition zu bilden. Das kam überraschend, weil die Unabhängigen Griechen eher mitte-rechts stehen. Allerdings sind sie, wie SYRIZA, absolut anti-Austerität. Trotzdem war es ein Zeichen dafür, wie ideologisch flexibel Tsipras ist.

Der Wahlsieg von SYRIZA ist weniger als eine Entscheidung für die Linken zu werten, sondern vielmehr als eine Absage an die Sparpolitik der Troika. Nach fünf Jahren des Niedergangs konnten viele Griechen einem Messias nicht widerstehen, der Freude, Hoffnung und Optimismus versprühte – der ihnen versprach, dass alles wieder viel besser wird. Und zwar bald. Wie sieht nun das Programm von SYRIZA aus?

Was SYRIZA will
Auf Basis einer Rede, die Tsipras am 15. September 2014 in Thessaloniki hielt, entwickelten seine Top-Berater ein neunseitiges „Konzept“ mit dem Titel „Whatthe SYRIZA government will do“. Man muss also dieses „Konzept“ als Grundlage für eine Beurteilung von Griechenlands Zukunft heranziehen, wenngleich im Wahlkampf führende SYRIZA-Vertreter – Tsipras eingeschlossen – wiederholt andere und widersprüchliche Aussagen getroffen haben.

Das „Konzept“ könnte aus der Feder eines Amerikaners stammen, der nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland wieder aufbauen wollte. Seine vier Säulen sind die Bewältigung der humanitären Krise, die Ankurbelung der Wirtschaft und ein gerechtes Steuersystem, neue Beschäftigung sowie die Transformation des politischen Systems in eine bessere Demokratie. Die Detailmaßnahmen geben jedem Griechen Hoffnung, dass es ihm bald besser gehen wird. Sie kosten 11 Milliarden Euro. Gleichzeitig bringen sie Erträge von 12 Milliarden Euro, die von Steuerschwindlern, Schmugglern und sonstigen Parasiten Griechenlands kommen sollen. Es gibt wohl niemanden, der solchen Absichten widersprechen würde.

Die Tonlage verändert sich deutlich, wenn SYRIZA den Gesamtkontext ihrer Verhandlungsstrategie beschreibt. An erster Stelle steht dort ein Schuldenverzicht des „größeren Teils der Staatsschulden“ im Rahmen einer Europäischen Schuldenkonferenz analog zu jener von 1953. Griechenland soll in den gleichen Genuss kommen wie das damalige Deutschland. Die verbleibenden Schulden sollen an das Wirtschaftswachstum gekoppelt werden, mit dem Ziel, dass bei niedrigem Wachstum die Schulden nur teilweise getilgt werden, verbunden mit einem „möglichst langen“ Zinsmoratorium. Der Stabilitätspakt soll eingehalten werden, allerdings unter Ausschluss öffentlicher Investitionen. Die Europäische Investment Bank soll einen „European New Deal“ auf die Beine stellen. Und um Deutschland vorzuwarnen: Das Thema der nicht getilgten Zwangsanleihe aus dem Zweiten Weltkrieg soll auf den Verhandlungstisch kommen.

Es wäre ein großer Fehler, das „Konzept“ von SYRIZA nicht ernst zu nehmen. Immerhin hat es die Unterstützung von Nobelpreisträgern, wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz, von sehr vielen international anerkannten Ökonomen und sehr vielen Meinungsbildnern. Der Tenor dieser Unterstützer lautet: Die EU kann aus moralischen Gründen nicht zuschauen, wie sich ein Mitgliedsland in ein volkswirtschaftliches Kuba entwickelt. Ganz abgesehen davon, dass wegen SYRIZA ein Umdenken seitens der EU erfolgen wird, mit dem Ergebnis, falsches Sparen durch Wachstumsimpulse zu ersetzen.

Provozierter „Grexit“?
SYRIZA wird sich allerdings auf einige sehr konkrete Fragen seitens der EU vorbereiten müssen, etwa die Fragen, wieso sich das „Konzept“ auf Maßnahmen konzentriert, wie andere Länder Griechenland helfen können. Sie ignoriert dabei, wie Griechenland sich selbst helfen könnte. Wieso glaubt Griechenland, dass eine Art Marshallplan für Griechenland ähnlich erfolgreich wirken würde wie seinerzeit für Deutschland, wenn Griechenland laut Doing Business Report der Weltbank schon seit Jahren der unattraktivste Wirtschaftsstandort und laut Amnesty International das korrupteste Land der EU ist?

Wieso werden Infrastrukturinvestitionen Wunder für Griechenland bewirken, wenn sie in der Vergangenheit Arbeitsplätze für billige Albaner und Schmiergelder auf Schweizer Bankkonten zur Folge hatten? Ist Alexis Tsipras wirklich zum Paulus geworden oder ist noch ein Teil von jenem Saulus in ihm, der schon im Gymnasium der kommunistischen Partei beigetreten war; der schon damals seine heutige Lebensgefährtin (und Mutter zweier Kinder, eines davon nach Che Guevara benannt), die auch eine aktive Kommunistin war, kennengelernt hatte; der in den letzten Jahren fast bei jeder Massendemonstration federführend und aufrührerisch gewirkt hatte?

Wer ist dieser Alexis Tsipras wirklich? Ist Tsipras’ Bekenntnis zur Eurozone wirklich ehrlich oder ist es eine Reaktion auf Meinungsumfragen, die sagen, dass bis zu 75 Prozent aller Griechen den Euro beibehalten wollen? Weiß denn Tsipras wirklich nicht, dass Griechenland ohne finanzielle Unterstützung und Know-how aus dem Ausland rasch auf einen Lebensstandard von Jahrzehnten vorher zurückfallen würde?

Manche stellen sogar die Frage, ob Tsipras möglicherweise eine Strategie verfolgt, den „Grexit“ zu provozieren, anderen die Verantwortung zuzuschieben und im Zuge dessen eine „Scheidung mit großzügigen Alimenten“ zu verhandeln. Tsipras’ größte Herausforderung wird es aber sein, seine Partei zusammenzuhalten.

Gut ein Drittel von SYRIZA ist radikal links; für sie gibt es keine Kompromisse. Manche unter ihnen fordern öffentlich den Euro-Austritt. Beim Parteikongress 2013 hatten sie „unwiderruflich“ beschlossen, alle Memoranden mit der Eurozone sowie die damit verbundenen Gesetze „am ersten Tag“ aufzukündigen und sämtliche bisherigen Reformen rückgängig zu machen. „Der erste Schritt wird die Wiederherstellung des Arbeitsrechtes, der Tarifverhandlungen, des Mindestlohns, der Mindestpensionen, der Arbeitslosenversicherung und der Familienbeihilfen auf das Niveau von vor der Krise sein.“ Dieser Beschluss ist nach wie vor gültig. Wie Tsipras diesen Teil seiner Partei von notwendigen Kompromissen überzeugen wird, ist derzeit noch ein Geheimnis.

Machtübernahme zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt
Vollkommen außerhalb von Tsipras’ Kontrolle ist jedoch das Vertrauen der griechischen Sparer. Eine markante Depositenflucht hatte bereits im Dezember eingesetzt und beschleunigte sich im Januar. Sollte nach der Wahl keine Beruhigung einkehren, sondern sich die Nervosität verstärken, dann könnte sich durchaus ergeben, dass auch Griechen, die mit dem Herz für SYRIZA stimmten, mit dem Hirn zugunsten ihres eigenen Vermögens votieren. Ein Run auf die Banken würde wahrscheinlich das Ende der gewählten Regierung bedeuten und Neuwahlen erforderlich machen – vom allgemeinen Chaos ganz zu schweigen.

Faktum ist, dass Tsipras die Regierungsverantwortung zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt übernimmt. Seit Dezember gehen die Steuereinnahmen rasant zurück und es ist zu bezweifeln, dass Griechenland derzeit noch einen Primärüberschuss hat. Falls nicht, müsste der Staat von der Substanz leben, die Cash-Reserven waren zuletzt jedoch weniger als zwei Milliarden Euro.

Am 28. Februar läuft das derzeitige Troika-Programm aus. Tsipras wird sich gezwungen sehen, das Programm vorläufig zu verlängern, weil andernfalls die EZB ihre Refinanzierung des griechischen Bankensektors beenden würde. Wie wird Tsipras seinen Anhängern erklären, dass er – statt sämtliche Vereinbarungen mit der Troika aufzukündigen – diese Troika sogar um eine Verlängerung ersucht?

Ohne Vereinbarung mit der Troika steuert Griechenland im ersten Halbjahr unaufhaltsam auf die Zahlungsunfähigkeit zu. SYRIZA hat wiederholt betont, dass es keinen Plan B gibt für den Fall, dass mit der Troika keine Vereinbarung erzielt werden kann. Und jede Vereinbarung mit der Troika erfordert einen erheblichen Kompromiss seitens Tsipras.

Etikettenschwindel als Ausweg
Eine salomonische Lösung wäre folgende: Man bedient sich eines sprachlichen Tricks und ersetzt das Wort „Memorandum“ durch den Begriff „Langfristiger industriepolitischer Entwicklungsplan“. Somit könnte Tsipras auf sein Konto verbuchen, das Memorandum abgeschafft und stattdessen etwas für die Entwicklung Griechenlands verhandelt zu haben. Statt einen Schuldenschnitt zu erreichen, wird die Troika eine Streckung der Tilgungen, beispielsweise auf 50 Jahre und eine Senkung der Zinsen anbieten. Ökonomisch hätte dies eine ähnliche Wirkung wie ein Haircut.

Die Troika wäre sicherlich auch bereit, einen Beitrag zur Erleichterung der humanitären Krise zu leisten und möglicherweise auch mehr. Die Troika wird jedoch mit Sicherheit nicht von ihren Reformbedingungen abweichen. Wahrscheinlicher ist, dass sie die Reformen sogar beschleunigt, weil Griechenland bei der Umsetzung weit im Rückstand liegt. Tsipras hat bisher immer versichert, dass es keine weiteren Reformen geben wird und dass bisherige Reformen aufgehoben werden. Dies wird der Knackpunkt bei den Verhandlungen sein.

Andreas Papandreou, Tsipras’ großes Vorbild, hatte es nach seiner Wahl 1981 geschafft, einige seiner wesentlichen Wahlversprechen, etwa den Austritt aus der EU, abzusagen, ohne den Rückhalt seiner Partei, PASOK, zu verlieren. Tsipras wird Ähnliches schaffen müssen, sofern er länger im Amt bleiben und seine Vision für Griechenland umsetzen möchte. Aus heutiger Sicht stehen die Voraussetzungen dafür nicht gut.

Sollte Tsipras scheitern, dann scheitert auch seine Regierung und Neuwahlen müssten abgehalten werden. Dass die griechischen Sparer dann trotzdem noch ihr Geld bei den Banken lassen werden, darf bezweifelt werden.

Originalveröffentlichung auf nzz.at hier.

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